Der Tag danach in Chile

26. Oktober 2020

Heute mal wieder etwas ganz anderes… fast schon ein Meinungsartikel… nicht Segeln, sondern Politik… akute Glatteisgefahr!!! Obwohl… dieser Blog möchte ja nicht zuletzt auch persönliche Eindrücke aus den von uns bereisten Ländern und Gegenden der Welt vermitteln. Insofern ist dieser Eintrag dann vielleicht doch nicht so themenfremd?! Sicherheitshalber schnalle ich mir aber lieber mal die Schlittschuhe an… ;-)

Die República de Chile ist ein Land, dass es nur selten in die Nachrichten auf der anderen Seite eines Ozeans schafft. Sicher kennt so ziemlich jeder in Grundzügen die ungewöhnliche Topographie dieses langgezogenen Landes an der Westküste Südamerikas. Den Namen der Hauptstadt Santiago de Chile mit seinen immerhin über 5 Mio (im Ballungsgebiet über 7 Mio) Einwohnern hat man vermutlich auch schon mal gehört.

Am 22. Mai 1960 war in Valdivia das Zentrum des stärksten, bisher aufgezeichneten Erdbebens… 9,5! Der dadurch ausgelöste Tsunami ging quer über den Pazifik. Ich kann mich noch gut daran erinnern, das Thema mit Samuel für sein Tsunami-Referat in der heimischen Grundschule durchgesprochen zu haben. Jetzt liegen wir mit unserer Samai genau hier.

Aus dem 20. Jahrhundert sind es wohl insbesondere zwei Namen aus Chile, die geschichtsinteressierte Menschen unabhängig aller Detailkenntnis schon gehört haben. 1970 wurde der marxistisch-sozialistische Salvador Allende im vierten Versuch zum Präsidenten gewählt. Schon drei Jahre später beendete ein blutiger, von den USA geförderter Militärputsch seine Amtszeit. Es begann die von Menschenrechtsverletzungen geprägte Militärdiktatur von Augusto Pinochet. Politisch wurde unter anderem konsequent privatisiert (selbst die Wasserversorgung!) und – jetzt kommen wir endlich zum Thema – eine Verfassung verabschiedet.

Diese formal heute noch gültige Verfassung von 1980 hat Chile nun mal wieder in die Nachrichten gebracht. Auch wenn sie inhaltlich zweimal (1989, 2005) reformiert und auch dazwischen mehrfach geändert wurde, so haftet ihr trotzdem das Etikett „Pinochet“ an. Leider wird diese tendenziell unreflektierte Lesart auch in internationalen Medien bevorzugt.

Vor ziemlich genau einem Jahr begannen in Chile teils von Gewalt begleitete Proteste gegen soziale Ungerechtigkeit. Auslöser war die Erhöhung der Fahrscheinpreise im öffentlichen Nahverkehr um 30 Pesos (umgerechnet gut 3 Cent)! Mittlerweile sind über 30 Tote zu beklagen. Eine zentrale Forderung der Demonstranten war und ist die Ausarbeitung einer neuen Verfassung.

Genau darüber wurde gestern abgestimmt…

Zwei Fragen waren zu beantworten:

  • Neue Verfassung ja/nein?
  • Verfassungsorgan zur Hälfte aus Abgeordneten und Bürgern oder eine reine Bürgerversammlung?

Mit jeweils fast 80% der abgegebenen Stimmen (Wahlbeteiligung leider nur ca. 50%) wurde eine neue, durch eine zu 100% direkt gewählte Bürgerversammlung zu entwerfende Verfassung beschlossen. Letzteres kann nur als schallende Ohrfeige für die aktuell verantwortlichen Politiker verstanden werden! Die 155 Bürger der Versammlung werden im April 2021 gewählt und haben dann ein Jahr Zeit, den neuen Verfassungsentwurf zu erarbeiten. Über diesen wird dann 2022 nochmal abgestimmt, ein Inkrafttreten vor 2023 kaum realistisch.

Soweit wir das überblicken ist das Echo in deutschsprachigen Medien überwiegend positiv. Leider scheint die Berichterstattung oft unreflektiert. Nur ausführlichere Artikel machen sich die Mühe, Pro und Contra ansatzweise zu erörtern. Kürzere Notizen dagegen preisen lediglich die Entscheidung. Die auch in Überschriften angeführten Zitate stammen in erster Linie von ihren Erfolg feiernden Demonstranten. Aus unseren Gesprächen mit verschiedenen Menschen hier in Valdivia zeichnet sich – wenig überraschend – ein differenzierteres Bild. Wir haben sogar eine Einschätzung als „Katastrophe für Chile“ gehört.

Unbestritten scheint, dass die aktuelle Verfassung das chilenische Volk spaltet. Doch warum? Ist es der Makel, dass die Version 1.0 aus der Militärdiktatur stammt oder tatsächlich eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der heute gültigen Version? Bedarf es wirklich einer kompletten Neufassung oder könnte eine (weitere) Reform Abhilfe schaffen? Für praktisch jede Position gibt es plausible Argumente. Natürlich kann ich hier keine fundierten Wahrheiten liefern. Doch warum bleibt diese essenzielle Diskussion (zumindest in der internationalen Berichterstattung) so oft nur Hintergrundrauschen?

Andere Fragen betreffen den weiteren Prozess. Ja, technisch ist der Ablauf soweit geklärt. Trotzdem gibt es auch hier Unwägbarkeiten. Wie wird sich die verfassungsgebende Bürgerversammlung zusammensetzen? Die (selbst argumentativ schwach begründete) Verführbarkeit von Wählern lässt Warnlampen leuchten. Doch vielleicht wird es ja doch eine Ansammlung geballter, alle Interessen des Landes adäquat widerspiegelnder Kompetenz? Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Und was machen die auch in Chile dringend benötigten Investoren und Kapitalgeber aus aller Welt in den kommenden Jahren der Hängepartie? Niemand kann vorhersagen, wie die neue Verfassung aussehen wird. Viele werden wohl abwarten wollen. Was bedeutet das für die chilenische Wirtschaft? Doch auch das ist kaum vorhersehbar.

Zusammenfassend stellt sich die Frage, ob das Ergebnis der Abstimmung tatsächlich so uneingeschränkt positiv zu beurteilen ist, wie es den ersten Anschein hat.

Ungeplant, im Grunde zufällig sind wir gerade jetzt hier und bekommen selbst in unserer aktuell eingeschränkten Situation mehr davon mit, als es sonst der Fall gewesen wäre. Chile befindet sich – zumindest soweit für den interessierten Gast ersichtlich – in schwierigen Zeiten… Zeiten der Ungewissheit… Zeiten des Umbruchs.

Wir wünschen von Herzen alles Gute auf dem weiteren Weg.
Die Menschen hier haben es sich verdient!

2 Kommentare zu „Der Tag danach in Chile“

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